SPEKULATIONEN MIT BILDERN
- Written by Gerry Jochum
- Published in UNTERHALTUNG
SPEKULATIONEN MIT BILDERN
Die 80sten Filmfestspiele von Venedig
Die Stars reisen mit dem Flugzeug an. Manchmal fliegen sie Businessclass, oft aber auch mit dem Privatjet. Oftmals wird der letzte Teil dann im Helikopter zurückgelegt, über der Lagune schwebend. Die erste Brücke, die wie eine Begrüßung nach Venedig führt, haben sie vermutlich noch nie gesehen oder überquert. Man kann sie nur mit dem Auto oder der Bahn überqueren. Gleichzeitig ist es aber auch die letzte Brücke, für die solche Verkehrsmittel erlaubt sind. Die restlichen 500 Meter muss man dann zu Fuß überqueren. Übrigens belegt Venedig, was die Zahl ihrer Brücken anbetrifft, lediglich Platz 5 (nach Hamburg mit 2500).
Die schönsten, kunstvollsten, ältesten und vor allem aber romantischsten Brücken findet man nur hier.
Schon um 7 Uhr morgens ist auf dem Canal Grande richtig viel los. Vaporetti kreuzen zwischen kleinen Motorbooten und Lastkähnen, auf denen teilweise richtig schwere Baumaschinen transportiert werden. Danach kommen Schiffe mit Waren für die Geschäfte, Supermärkte und Hotels. Auch die Polizei, die Feuerwehr und die ersten Gondeln, die schon mit ein paar Touristen besetzt sind, kommen aus den kleineren Seitenarmen und treiben auf dem breiten Wasserweg entlang der beeindruckenden Palazzi und Patrizierhäuser. Dabei kommen sie auch am Guggenheim-Museum vorbei und fahren schließlich bis zum Markusplatz.
Das Gebiet dahinter, Richtung Giardini, ist den protzigen Yachten der Superreichen vorbehalten. Die kommen teilweise schon Tage vor Beginn des Festivals an, um dort von Touristen umlagert und bestaunt zu werden. Die Eigner sind kaum zu sehen. Wenn überhaupt, halten sie sich auf dem oberen Deck auf, das über vier Decks verfügt. Die normalen Menschen unten am Kai sehen sie nicht.
Meist sind nur die unzähligen in strahlendes Weiß gekleideten Crew-Mitglieder zu beobachten, die die Decks schrubben oder das Messing polieren.
Wie am roten Teppich drüben auf dem Lido klicken die Touristenkameras häufig aus.
Als Nächstes geht’s raus aufs Meer, vorbei am Areal der Kunstbiennale. Kaum an Land gegangen, fühlt man sich wie in einer kleinen, verschlafenen Kleinstadt. Hier gibt es keinen Glamour und keine Stars. Hier sind eher Einheimische unterwegs. Frauen mit Lebensmitteltüten und Männer beim ersten Espresso in den Cafés und an der Bar. Hier ist die Welt noch so, wie sie vor 50 Jahren war.
Der Zeitungsladen hat gerade geöffnet, daneben gibt es Gelati, italienisches Eis, in unzähligen Geschmacksrichtungen, appetitlich in silbernen Metallboxen angerichtet. Es gibt kleine Kioske, Stände mit wassergekühlten Kokosnuss-Stückchen, Boutiquen, Drogerien und natürlich Pizzerien, deren Tische gerade zum ersten Frühstück mit weißen oder karierten Tischdecken bestückt werden. Von der ganzen Betriebsamkeit sieht man hier nichts, dass hier eines der größten und ältesten internationalen Filmfestivals stattfindet.
Hier fahren wieder Autos, die von außerhalb kommen und mit einer großen Fähre vom Festland herüber transportiert wurden.
Oben, am Ende dieser Idylle, kreuzt gleich hinterm Kreisverkehr eine gemütliche Allee, die von altem Baumbestand gesäumt ist. Dazwischen, hinter einem großen schmiedeeisernen Tor, befindet sich das Hotel Des Baines. Das Hotel war schon lange nicht mehr in Betrieb. Nach der Schließung ist es in die Hände von falschen Investoren gefallen, die mit großen Versprechungen versucht haben, den Erhalt zu finanzieren, ohne etwas dafür zu tun.
Nun ist dieses vornehme Hotel, das zu Beginn des letzten Jahrhunderts gebaut wurde, langsam verfallend.
Vor ein paar Jahren waren hier noch die Großen der Filmindustrie zu Gast. Wenn man sich den Speisesaal ansieht, hat man das Gefühl, dass Thomas Mann, der hier seinen berühmten Roman „Tod in Venedig” geschrieben hat, gerade vom Mittagessen aufgestanden ist.
In diesem Jahr soll es wohl endlich mal was werden, sagt zumindest die Einladung.
Ich glaube, das ist Augenwischerei. Es wird nicht funktionieren.
Wir verlassen den Schatten des Gebäudes und treten ins Sonnenlicht. Die Umgebung ist immer noch sehr beschaulich. Zur Linken hören wir das Rauschen des Meeres und von den Ausgängen strömen Menschen mit Handtüchern und Badekleidung heraus. Am Strand unten stehen die Strandhütten der betuchteren Leute in sauberen Zweierreihen. Die meisten Leute, die hier auf ihren bezahlten Strandliegen chillen, sind ältere Herrschaften, teilweise mit ihren Enkeln. Die haben scheinbar nichts Besseres zu tun, als sich die Haut wie Leder gerben zu lassen.
Weiter auf der Via Lungomare Marconi kommen wir dann zum Festival-Areal, wo es etwas hektischer zugeht.
Die Autos müssen umgeleitet werden, die Radfahrer müssen absteigen und die Taschen der Passanten werden durchsucht.
Das sieht aus wie ein Polizei-Aufgebot, das einen Staatsbesuch oder Ausnahmezustand begleiten könnte.
Nachdem wir die Sperren passiert haben, sehen wir schon von Weitem die Farben der Fahnen aller teilnehmenden Nationen auf dem Dach des weißen Festivalpalasts. Das Abendlicht lässt den Palast besonders gut aussehen. Gleich gegenüber liegt die Lions Bar. Von deren Terrasse aus haben die Zaungäste freien Blick auf den Festivalpalast. Der rote Teppich vor dem Eingang belebt sich. Neugierig versuchen die nicht zur Premiere geladenen Festival-Teilnehmer, mit um den Hals baumelten Pässen, zusammen mit den wenigen Touristen, aber auch Einheimischen, von hier einen Blick auf die Stars zu erhaschen.
In diesem Jahr waren allerdings viele Stars nicht dabei.
Der Super-Streik in Hollywood hat auch am Lido für Wirbel gesorgt. Seit sich die Schauspieler-Gewerkschaft den Drehbuchautoren angeschlossen und ihre Mitglieder zur Arbeitsniederlegung aufgerufen hatte, waren auch Promotion-Auftritte betroffen.
Aber immerhin sind einige Stars gekommen, die zumindest polarisieren.
Roman Polanski oder Woody Allen zum Beispiel. Beides sind wohlverdiente alte weiße Männer, die sich aber immer noch in der öffentlichen Kritik wiederfinden.
Wie immer ist es schwierig und aussichtslos, bei über zweihundert Filmen, die ohnedies eher dem eigenen Geschmack entsprechend selektiert wurden, eine objektive Rezension zu schreiben. Der Schwerpunkt liegt daher auf den Wettbewerbsfilmen, die am besten über die finale Preisverleihung darstellbar sind.
Den Hauptpreis hat sich der griechische Regisseur Yorgos Lanthimos mit seinem Film „The Favourite – Intrigen und Irrsinn” geholt. Emma Stone spielt hier in einem modernen Frankensteinmärchen mit, das man vielleicht auch als feministisch bezeichnen könnte.
Von den 23 Wettbewerbsfilmen, die alles von Serienkillern bis zu surreal verschraubten Parallelwelten geboten haben, ist der Film des Japaners Ryusuke Hamaguchi besonders herausgestochen. Er zeigt ein Dorf, in dessen Nähe ein glamouröses Camping-Resort gebaut werden soll. Das würde das ökologische Gleichgewicht des Dorfes bedrohen.
Schließlich war nicht ganz klar, nach welchen Kriterien die Jury ihre Entscheidung getroffen hat. Wenn man nur auf die geographische Herkunft geachtet hat, ist man, wie so oft, nach dem Gießkannenprinzip vorgegangen. Man könnte auch sagen, dass die Preise ziemlich divers verteilt wurden: Japan/Asien war genauso dabei wie Süd- und Mittelamerika oder Osteuropa.
Ohne jetzt zu sehr ins Detail zu gehen, kann man sagen, dass man bei den Ausgezeichneten auf Nummer sicher gegangen ist. Die Preise gingen vor allem an die Großen des europäischen Autorenfilms.
Amerika ging dieses Mal überraschenderweise bis auf die „Copa Volpi” für Sophia Coppolas „ELVIS”-Verfilmung leer aus.
Ich habe gehört, dass bei dieser 80. Festivalausgabe viele preiswürdige Filme, darunter auch der deutsche Beitrag von Timm Kröger, unberücksichtigt geblieben sind.
Ich war leider krank und konnte deshalb nicht nach Venedig. Aber ich wette, dass es 2023 genauso war. Wenn nicht, berichte ich in diesem Jahr wieder vor Ort. Versprochen!